Home Overzicht ’Viren sind wie Einbrecher. Man muss sie an der Haustür aufhalten.’

’Viren sind wie Einbrecher. Man muss sie an der Haustür aufhalten.’

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Menno Jan Bouma, Arzt, Epidemiologe und Hochschullehrer im Ruhestand, war viele Jahre für ‚Ärtze ohne Grenzen‘ aktiv. Er stammt aus den Niederlanden und lebt heute in Irland. Er hielt Vorlesungen an den Tropeninstituten in London und Amsterdam. In seiner Forschung beschäftigte er sich mit den Übertragungswegen von Krankheitserregern und war als Impfarzt aktiv. So hat er sich in seiner beruflichen Laufbahn ein umfangreiches Wissen über Viren aufgebaut. In der aktuellen Situation möchte ich gern mehr über Viren lernen und habe ein Interview mit ihm geführt.

Interview | Robijn Tilanus, Niederlande | Übersetzung ins Deutsche | Peter Karp

Sie waren im Tropeninstitut in London tätig, sind aber in die Niederlande zurückgekehrt, um am Tropeninstitut in  Amsterdam zu unterrichten. Wie war das?

Großartig. Es gibt auf der Welt nur wenige Orte mit so viel Wissen über Infektionskrankheiten. Das königliche Institut für Tropen in Amsterdam war einer davon. Leider dachten viele in den 60er-Jahren, dass wir Infektionskrankheiten bereits im Griff hatten und beginnend in den 80ern wurde das Tropeninstitut dann wegrationalisiert. Die Bibliothek wurde aufgelöst. Entsprechende Fachleute, Sammlungen und Bücher sind im Zuge davon verloren gegangen. Und wo Wissen fehlt, ist die Angst nicht weit.

Wissen, dass man nun rund um die Bestreitung des Coronavirus gut hätte gebrauchen können.

Auf jeden Fall.

Glücklicherweise sind Sie noch da und wollen ihr Wissen über Viren mit uns teilen. Zuerst, was ist ein Virus eigentlich?

Ein Virus ist sehr interessant, da es eine Art Zwischenform bildet zwischen Lebewesen wie sie oder ich das sind und zwischen toten Gegenständen.  Ein Virus ‚lebt‘ nicht im eigentlichen Sinne. Es  besteht aus genetischem Material (DNA oder RNA) welches sich in einer Hülle, wie in einer Schale, befindet. Ohne einen Wirt ist ein Virus zu nichts fähig. Es ist praktisch genauso tot wie ein Stückchen Plastik. Es zeigt keinerlei Lebenszeichen. Aber wenn ein Virus das Glück hat, in die Zellen eines Wirts zu gelangen ist es, wie wenn ein Bär aus seinem Winterschlaf erwacht. Ein Virus kann dann die Baustoffe seines Wirts ausnutzen um sich selbst zu vermehren. Das ist auch das Einzige was ein Virus schon kann, aber ein Stückchen Plastik nicht. Diese Fähigkeit sich zu reproduzieren kann ein Virus aber verlieren. Man spricht dann von einer Virusinaktivierung.

Was passiert nachdem sich ein Virus vermehrt hat?

Nach dieser Vermehrung machen sich die jungen Viren auf die Suche nach einen neuen Wirt. Dazu muss ein junges Virus sich fortbewegen und versuchen in einen neuen Wirt einzudringen. Das ist für Viren doch recht schwierig, angesichts dessen dass ein Virus nichts alleine kann, außer sich zu vermehren. Es kann nur passiv reisen und muss sich quasi wie ein Tramper mit Hilfe anderer fortbewegen und dann versuchen in einen Wirt einzudringen. Wenn das klappt, kann die „Virusparty“ neu beginnen und es kann sich vermehren. Der Zyklus eines Virus ist also: reisen, eindringen, sich vermehren, reisen, eindringen, sicher vermehren usw. Etwas anderes kann und macht ein Virus nicht, da ein Virus nicht ‚lebt‘.

Wie stellt ein Virus das passiv Reisen und Eindringen an? Ein Virus hat ja keine Flügel, Füße oder Schwimmflossen um zu reisen? Ein Virus kann ja nicht einfach so durch unsere Haut in den Körper eindringen?

Das stimmt. Ein Virus hat keine Flügel, Füße oder Schwimmflossen um von einem Wirt zum nächsten zu kommen. Und tatsächlich kann ein Virus nicht einfach so durch unsere Haut in den Körper kommen. Unsere Haut ist eine undurchdringbare Barriere für einen Virus. Viren haben im Laufe der Evolution verschiedene Strategien entwickelt um sich fort zu bewegen und in einen Wirt einzudringen. Die Art wie ein Virus sich fortbewegt ist direkt damit verknüpft wie ein Virus nach seiner Reise in einen Wirt eindringt. Es gehören also je ein Übertragungsweg und eine Weise, in den Wirt einzudringen zusammen. Jede Virenart ist auf mindestens eine Strategie spezialisiert. So lassen sich alle Viren in drei grundlegend unterschiedliche Hauptgruppen einteilen.

Erzählen Sie mir mehr über die verschiedenen Hauptgruppen oder Arten von Viren…!

Man kann diesen Hauptgruppen folgende Bezeichnungen geben:

  • ‚Opportunisten‘: sie können durch eine Schadstelle des Körpers eindringen, wie z. B. durch eine Wunde oder über eine Bluttransfusion wie beim AIDS Virus.
  • ‚Überleber‘: sie folgen dem Nahrungsweg, denken wir z. B. an die Durchfall verursachenden Diarrhö-Viren.
  • ‚Flieger‘: sie bewegen sich mit der Luft mit die eingeatmet wird, wie etwa bei Grippe- oder Coronaviren.

Als erste nennen sie die Opportunisten wie das AIDS-Virus. Was ist die Strategie von Opportunisten?

Ein Opportunist wartet bis er zum Beispiel eine Öffnung in der Haut eines neuen Wirts findet, wie z. B. eine Wunde. Dann wartet er bis der alte Wirt mit seinem Blut oder Sperma in direkten Kontakt mit der Wunde kommt. Und dann kann er darüber in den Körper des neuen Wirts eindringen. Oder auch durch einen Insektenstich können Opportunisten über den Stachel eindringen.

Und die Überleber, wie Diarrhö-Viren? Was ist ihre Strategie?

Überleber halten gegen die extrem sauren Magensäfte bestand und werden dort nicht inaktiv. Sie vermehren sich im Darm. Wenn ein alter Wirt seine Hände nach dem Stuhlgang nicht wäscht, kann ein winzig kleines Teilchen des Stuhls über seine Hände auf einem Tisch, Liftknopf oder einer anderen Oberfläche landen. Berührt ein neuer Wirt diese Oberflächen oder schüttelt dem alten Wirt die Hände, kann der Überleber auf die Hand des neuen Wirts geraten. Wäscht der neue Wirt dann vor dem Essen nicht seine Hände oder er berührt mit seinen Fingern den Mund  oder die Zunge, kann ein Überleber so durch den Mund den Darm des neuen Wirts erreichen.

Was mich natürlich in dieser Coronaperiode am meisten interessiert: Was ist die Strategie von Fliegern wie Grippe- oder Corona-Viren?

Die Strategie von Fliegern ist es, sich an kleine Tröpfchen, die der alte Wirt über den Mund nach außen kommen lässt, anzuhängen. Wenn der alte Wirt ausatmet, singt oder hustet, kommen aus seinem Mund sehr viele kleine Tröpfchen. Flieger versuchen sich als ‚Trittbrettfahrer‘ mit diesen kleinen Tröpfchen zu bewegen. Ein Flieger der auf diese Weise Glück hat, verlässt den Körper des alten Wirts in einem kleinen Tröpfchen. Dann reist er durch die Luft zu einem neuen Wirt und gelangt zusammen mit der eingeatmeten Luft in dessen Körper. Dort versucht er — noch immer in einem kleinen Tröpfchen eingebettet — sich mit der Luft bis zu den Lungenbläschen, tief in den Lungen, zu bewegen. Dort ist die Lungenwand sehr dünn: nur eine Zellschicht. Unser biologisches Abwehrsystem ist dort sehr schwach. Daher sind dort viel weniger Virusteilchen nötig um uns krank zu machen.

Wie klein sind die Tröpfchen eigentlich?

Die Tröpfchen sind alle klein. Aber manche Tröpfchen sind um vieles kleiner als andere Tröpfchen. Die kleinsten Tröpfchen nennen wir ‚Aerosole‘  und diese können fliegen. Die größeren Tröpfchen schweben dagegen nicht lange in der Luft. Sie fallen durch die Schwerkraft schnell zu Boden. Sie legen bei normalem Atmen ungefähr einen Abstand von einem halben Meter und bei kräftigem Husten bis zu einigen Metern zurück. Um einen neuen Wirt zu erreichen, müssen die Flieger die Nasen- oder Mundhöhle des Wirts erreichen. Aber durch die Schwerkraft fallen die größeren Tröpfchen schnell Richtung Boden. Die Aerosole schweben dagegen lange in der Luft. Wenn nicht gut ventiliert wird, können diese stundenlang in der Luft schweben. Dabei können sie enorme Abstände zurücklegen.

Ich verstehe. Das ist also aus der Sicht der Viren. Aber wie verhält es sich auf der Seite des Menschen? Wie funktioniert unsere Abwehr gegen Viren?

Seit Entstehung des Menschen lebt dieser mit Viren. Wir, sowie unsere fernen Vorfahren im Tierreich, haben uns gleichsam zusammen mit Viren entwickelt. Im Laufe der Zeit haben sich viele Formen erblicher und erwerbbarer Abwehr entwickelt. Antikörper sind dabei lediglich ein Teil. Gegen die verschiedenen Virusstrategien (Opportunisten, Überleber und Flieger) hat der Mensch jeweils dazu angepasste Abwehrstrategien entwickelt.

Erzählen Sie: Was ist unsere Abwehrstrategie gegen die Opportunisten wie das AIDS-Virus?

Gegen die Opportunisten haben wir die vielleicht älteste Abwehr entwickelt. Wir haben eine Haut. Unsere Haut hält praktisch alles Schädliche das in unseren Körper eindringen will fern. Wenn wir eine Wunde haben ist unser Körper  unheimlich gut in der Lage diese Wunde sehr schnell zu heilen.

Und was ist unsere Abwehrstrategie gegen Überleber wie Diarrhö-Viren?

Für diese haben wir unter anderem einen extrem sauren Magen entwickelt. Unsere Magensäure beschädigt so gut wie alle Viren, so dass diese sich nicht mehr vermehren können. Auch die meisten Überleber können die Magensäure nicht überstehen. Lediglich ein kleiner Teil kann das und wird sich dann auch möglicherweise vermehren.

Und jetzt das Wichtigste: Wie sieht es mit der Abwehr gegen die Flieger wie Grippe- oder Coronaviren aus?

Um tief in den Lungen zu landen muss ein Flieger erst durch den Mund oder die Nase. Wir haben alle in unserer Nase, dem Mund und Rachenraum mehrere Abwehrmechanismen, wozu auch Immunzellen gehören. Eine ganze Armee samt einer Vorhut und Nachhut ist bereit, die Flieger aufzuhalten. Die meisten Eindringlinge bleiben im Labyrinth der Schleimhaut und der kleinen Härchen in unserer Nase stecken und werden dort unschädlich gemacht. Auch die Mundhöhle und der Rachenraum beteiligen sich an der Abwehr der Flieger. Und sollten diese doch in den Magen gelangen, haben sie dort keine einzige Chance.

Macht es einen Unterschied ob ein Flieger in einem großen Tröpfchen oder als Aerosol in einem kleinen Tröpfchen den Körper erreicht?

Ja, wenn ein Flieger in einem kleinen Tröpfchen, einem Aerosol, mitreisen kann ist die Chance viel größer, dass er die Verteidigungslinie durchbrechen kann. Genauso wie kleinere Fische eine viel größere Chance haben durch die Maschen eines Netzes zu schlüpfen als größere Fische. Außerdem kann ein Flieger unter Umständen mit der eingeatmeten Luft bis tief in die Lungen kommen. Jedenfalls wenn das Tröpfchen so klein ist, dass der Flieger auf seiner Reise zusammen mit dem Aerosol mit ein wenig Glück direkt die Lungen erreicht. Wenn ein Flieger dagegen in einem größeren Tröpfchen mitreist ist es viel schwieriger in den neuen Wirt einzudringen. Die Chance ist dann sehr groß, dass er bereits beim ‚Einlass‘ durch Nase, Mund- oder Rachenraum aufgehalten wird.

Was geschieht genau in der Nase?

Alles in der Nase ist darauf ausgerichtet, dass Viren, Bakterien und andere Krankheitserreger nicht in unseren Körper eindringen können. Neben der Nase sind auch der Mund-und Rachenraum darin äußerst geschickt. Unsere Abwehr steht parat um mit allen Eindringlingen abzurechnen.  In den meisten Fällen gelingt es uns, Eindringlinge wie Viren oder Bakterien in der Nase effektiv zu bestreiten und unschädlich zu machen. Dabei haben wir dann bereits mit den Eindringlingen ‚Bekanntschaft geschlossen‘. Das hat zur Folge, dass wir bei einem erneuten Einbruchsversuch an unserer ‚Eingangstür‘ noch schneller und effektiver eingreifen können.  Man kann das damit vergleichen, jemanden bis dahin unbekanntes an der Eingangstür abzuwimmeln, wobei dann anschließend unsere Abwehr durch Bildung von Antikörpern aufgebaut wird.

Sie haben den Einfluss der Jahreszeiten und des Wetters auf die Ausbreitung von Infektionskrankheiten untersucht. Spielen diese auch bei der Verbreitung von Corona eine Rolle?

Ja, die meisten Infektionskrankheiten sind saisonal, d.h. abhängig von den Jahreszeiten. Für die Flieger ist vor allem die Temperatur und Luftfeuchtigkeit von Belang. Flieger wie Grippeviren oder Corona gedeihen bei kühler und trockener Luft während Überleber dann gerade schneller austrocknen und inaktiv werden. Es ist noch nicht erwiesen, ob die Feuchtigkeit schlecht für das Virus selbst ist, oder für die Lebensdauer der Aerosole. In feuchter Luft fallen Aerosole möglicherweise schnell zu Boden. In trockener Luft können diese viel länger zirkulieren. Im Sommer haben wir weltweit in der fleischverarbeitenden Industrie viele Coronafälle gesehen. Dort wird die Luft kühl und trocken gehalten und um Kosten zu minimieren wird die Luft nicht ausreichend mit Frischluft von außen ersetzt: ein Walhalla für Flieger (Aerosole). Im Winter heizen wir unsere Häuser und sind wir mehr im Haus. Die Luft trocknet aus und wir leben auf engerem Raum zusammen als im Sommer. Dadurch kann eine größere Menge Viren unsere Lungen erreichen, unsere verletzlichste Stelle. Diese Abhängigkeit von Temperatur und Luftfeuchtigkeit sorgt dafür, dass Grippe und Corona echte Winterviren sind. Sparsames Heizen durch das Vermeiden von Zug oder intelligenten Heizsystemen die nur dann frische Luft einlassen, wenn dies absolut nötig ist, gehen gewöhnlich zu Lasten von frischer und feuchter Außenluft. Darauf müssen wir also achten. Für die kommende Wintersaison ist mein Rat für eine gute Luftfeuchtigkeit (von …. bis … %) zu sorgen. Zum Beispiel indem man ein Gefäß mit Wasser auf der Heizung platziert und damit zu einer höheren Luftfeuchtigkeit beiträgt.

Raten Sie Menschen sich draußen zu verabreden?

Sich draußen zu treffen ist tatsächlich eine gute Überlegung. Das Verhalten von Aerosolen kann man mit dem Verhalten von Zigarettenrauch vergleichen. Wenn man draußen eine Zigarette raucht verfliegt der Rauch schnell und man belästigt andere nicht damit, außer wenn der Rauch ins Gesicht bläst. Aerosole verhalten sich vergleichbar. Wenn man Corona hat und sich draußen mit Menschen trifft werden diese durch Aerosole nicht beeinträchtigt werden. Außer wenn man die Aerosole jemand in das Gesicht bläst.

Und wie steht es mit der Ventilation? Ist das sinnvoll?

Ja, das macht sicher Sinn. Vergleichen wir dies wieder anhand von Zigarettenrauch. Wenn Sie in meinem Wohnzimmer eine Zigarette rauchen und ich nicht gut ventiliere, kann ich noch tagelang Ihren Zigarettenrauch riechen. Aber wenn ich ein Weilchen mit gegenüber liegenden geöffneten Fenstern durchlüfte, ist der Gestank schnell verschwunden. Genauso verhält es sich mit Aerosolen. Wenn man gut durchlüftet indem man für Durchzug sorgt, verfliegen diese schnell. Vor allem im Winter, der Hochsaison für den Virus, ist frische Außenluft besonders wichtig.

Was kann man noch mehr tun um Flieger wie den Coronavirus einzudämmen?

Bei der Bekämpfung von allen Infektionskrankheiten ist es besonders wichtig, dafür zu zu sorgen, dass das natürliche Immunsystem gut funktionieren kann. Denken Sie dabei zum Beispiel an gesunde Ernährung, ausreichende Bewegung und Schlaf. Nehmen Sie zur Stärkung des Immunsystems täglich eine extra Dosis Vitamin C und D. Sorgen Sie auch für ihr psychisches Wohlbefinden. Das nennen wir ja ‚Vitamin F‘, wobei das F für Freude und Vergnügen steht. Machen sie Dinge die sie glücklich machen. Tanzen sie, musizieren, verabreden sich mit Freunden oder ziehen los ins Freie. Und vermeiden sie jederzeit Superspread-Events.

Was meinen Sie mit Superspread-Events? Erzählen Sie uns mehr darüber.

Das Coronavirus kann sich während sogenannter Superspread-Events rasendschnell ausbreiten. Das sind Gelegenheiten oder Ereignisse bei denen sich stundenlang viele Menschen in einem schlecht ventilierten Raum aufhalten. Denken sie zum Beispiel an Après-Ski-Bars oder Karnevalsveranstaltungen. Dann genügt es bereits wenn nur eine Person das Coronavirus trägt. Diese eine Person bläst unbemerkt viele Aerosole in die Luft. Vermutlich ist dies bei manchen Virenträgern stärker als bei anderen. Alle Anwesenden atmen daraufhin stundenlang die Aerosole ein. Das Virus hat dann großräumig die Möglichkeit, um bei vielen Menschen einzudringen. Und dies in einer Menge bei der unsere körpereigene Abwehr nicht mehr dagegen halten kann.

Ich höre Sie gar nicht über Hände waschen, desinfizieren, Abstand halten, keine Hände schütteln, niemand umarmen usw. sprechen…!

Diese Maßnahmen sind perfekt um Überleber wie den Diarrhö-Virus zu bestreiten. Überleber reisen über Hände, Oberflächen oder Berührungen von Wirt zu Wirt. Wenn man diese Viren bekämpfen will, ist es in der Tat gut alles zu desinfizieren und Abstand zu halten und sich nicht gegenseitig anzufassen. Inzwischen wissen wir jedoch dass Corona ein Flieger ist. Flieger haben eine andere Strategie um von Wirt zu Wirt zu gelangen und in einen Wirt einzudringen. Wie bereits gesagt: Flieger breiten sich vor allem durch die Luft aus. Vergleichen wir das noch einmal anhand von Zigarettenrauch. Dieser verbreitet sich nicht oder kaum durch Hände oder Oberflächen. Blasen sie einmal Zigarettenrauch gegen ihre Hände und geben danach jemandem die Hand oder nehmen ihn in den Arm. Die Chance, dass Zigarettenrauch auf diese Weise tief in ihren Lungen landet ist minimal. Flieger müssen von Aerosolen mitgenommen werden um auf diese Art tief in die Lungen eindringen zu können wo unser Körper weniger Abwehrkräfte hat. Die Maßnahmen wie Hände waschen, desinfizieren,  Abstand halten, keine Hände schütteln und sich nicht in den Arm nehmen sind daher auch kaum effektiv, wenn man Flieger wie Grippe- oder Coronaviren bestreiten möchte.

Aber Herr Bouma, das steht doch ganz und gar im Widerspruch zu dem was die Regierung von uns verlangt?

Teilweise ja. Aber der [niederländische] Ministerpräsident Mark Rutte hat uns auch mehrmals aufgefordert unseren gesunden Menschenverstand zu benutzen …
[Anmerkung des Übersetzers: In Deutschland und den Niederlanden ist die Vorgehensweise zur Bekämpfung des Coronavirus im Wesentlichen vergleichbar.]

Ich habe Sie einmal sagen hören, dass Viren wie Einbrecher sind und man sie an der Haustür aufhalten muss. Was meinen Sie genau damit?

Es gibt einen großen Unterschied zwischen einem Einbrecher den man bereits an der Haustür aufhält oder einem Einbrecher der ins Haus eindringt und wieder flüchtet und einem Einbrecher der es sich in einem Haus gemütlich macht und dort sesshaft wird. So verhält es sich auch mit Viren. Wenn man ein Virus schon an der ‚Haustür‘, das heißt in der Nase oder im Mund- und Rachenraum aufhalten und unschädlich machen kann, macht man es genau richtig. So lernt man ein Virus buchstäblich von Nahem kennen, wodurch man bei einer möglichen Wiederholung noch schneller reagieren kann. Wenn man ein Virus einatmet und danach wieder ausatmet ist das auch kein echtes Problem. Aber wenn ein Virus sich tief in den Lungen einnistet und sich dort ausbreitet, kann man entsprechend ernst krank werden.

Aktuell sehen wir eine enorme Zunahme an Menschen die mit Corona infiziert sind. Auch hier in Amsterdam. Wie beurteilen Sie das?

Die Ansteckungen werden nun mit den sogenannten PCR-Tests erfasst. Der Test untersucht ob der Coronavirus in Nase oder im Mund- und Rachenraum festzustellen ist oder ein Rest eines inaktiven Virus, wenn eine Infektion bereits überstanden ist. Ein Großteil der Menschen bei denen das Virus in der Nase oder im Mund- und Rachenraum festgestellt wird, haben bildlich gesprochen ‚an der Haustür Bekanntschaft gemacht‘. Wie ich eben schon sagte: Bei normal gesunden Menschen mit einem funktionierenden Immunsystem steht ein ganzes Heer an Immunzellen zur Abwehr bereit. Dieses Heer trifft auf das Virus, macht dieses unschädlich, aber kann bei einem folgenden Mal noch besser reagieren, da es das Virus bereits kennen gelernt hat. Ich persönlich finde daher das Wort Ansteckung oder Infektion nicht so gut gewählt. Passender würde ich das als ‚Bekanntschaft machen‘ bezeichnen wollen. Ja, es stimmt dass die Anzahl der ‚Bekanntschaften‘ mit dem Virus zunimmt.

Aber das ist doch echt schlimm, dass das Virus bei immer mehr Menschen in der Nase sitzt?

Ja und nein. Menschen die in Kontakt mit dem Virus gekommen sind und dieses an der Haustür aufhalten konnten, sind wie ein lebendiges Schild für alle durch Corona gesundheitlich gefährdeten  Personen in unserer Gesellschaft. Ich spreche hier über die weithin bekannte ‚Gruppenimmunität‘.  Man benötigt als Gesellschaft eben eine bestimmte Zeit um Gruppenimmunität aufzubauen. Junge und vitale Menschen haben in der Regel nicht oder kaum Probleme durch Corona. Bei ihnen bleibt es meist bei einem leichten Husten oder Fieber und teilweise Schnupfen. In den Niederlanden gibt es ein gutes Zusammengehörigkeitsgefühl und die Fürsorge für Ältere ist ausgezeichnet. Ein perfekt dazu passender Leitspruch könnte sein: Sorge gut für deine Oma. Schau’ dass du Corona gehabt hast. Je mehr junge und gesunde Menschen in Berührung mit dem Coronavirus gekommen sind indem dieses an der Haustür abgewehrt wurde und so Immunität gegen Corona aufgebaut wurde,  desto günstiger ist das für unsere Mitmenschen mit einem sehr schwachen Immunsystem.

Das bringt mich auf die Frage: Wie tödlich ist Corona eigentlich? Haben Virologen und Epidemiologen dafür eine standardisierte Messgröße?

In den Niederlanden leben wir mit 17 Millionen Menschen. Jeden Tag werden Menschen geboren und jeden Tag sterben Menschen. Das ist ein natürlicher Prozess. Wenn mehr Menschen als durchschnittlich sterben sprechen wir von einer Übersterblichkeit. Wenn weniger Menschen als im Durchschnitt sterben bezeichnet man das mit Untersterblichkeit. In den Niederlanden haben wir in den Monaten März und April 2020 eine Übersterblichkeit verzeichnet. Danach war eine monatelange Periode, in der eine Untersterblichkeit gegeben war.

Anmerkung des Übersetzers: In Deutschland war im Frühjahr ebenfalls eine Übersterblichkeit zu verzeichnen. In den Folgemonaten lag die Sterblichkeit mit Ausnahme um die Hitzewelle herum wieder etwa auf dem Niveau der Vorjahre. Quelle: www.destatis.de

Die Tödlichkeit eines Virus drückt man durch die sogenannte Infection Fatility Rate (IFR) aus. Das ist der Prozentsatz der Personen die in Kontakt mit dem Virus gekommen sind und an diesem Virus versterben. Corona hat eine geschätzte IFR von 0,5 % oder niedriger. Das ist vergleichbar mit der IFR einer mittelschweren bis schweren Grippe. Ja, Corona ist ein neues Virus. Aber ich möchte dafür plädieren um die Angst durch Zuversicht und Vertrauen zu ersetzen. Die bildlich betrachteten ‚Brüder und Schwester‘ des Coronavirus zählen wir zu den mittelschweren Wintergrippen. Weltweite Panik ist nicht nötig. Mit den deutlich ernsthafteren Infektionen, die man in den Tropen sieht, gehen Menschen viel rationeller um.

Aber in den USA sterben doch sehr viel Menschen an Corona?

Das stimmt. In Gebieten mit einer großen Sterblichkeit ist es auffallend, dass vor allem der sozial unterprivilegierte Teil der Bevölkerung stirbt.  Diese Bevölkerungsschicht hat ein erhöhtes Risiko für einen ernsten Verlauf der Krankheit, wie Übergewicht und Diabetes. Schlechte Ernährung, schlechte Luft und Wohnungen, sowie schlechte Wasserversorgung in Bezug auf Sauberkeit des Wassers tragen direkt oder indirekt zu einer Schwächung des Immunsystems bei.

Zur Zeit gibt es große Diskussionen zu Mundmasken in Schulen. Was ist Ihre Meinung dazu?

Vielleicht können Mundmasken ein wenig helfen um das Virus nicht an andere Personen weiterzugeben, wenn jemand mit Covid-19 krank ist. In Schulen scheinen mir die Vorteile allerdings kleiner zu sein als die Nachteile, nämlich mögliche Atemschwierigkeiten, ein beklemmtes Gefühl, Konzentrationsprobleme, Kopfschmerzen und mögliche Gehirnschäden.

Wie denken Sie dass sich die kommenden Monate und Jahre die Situation mit Corona weiterentwickeln wird?

Es ist zu erwarten dass wir in den Monaten November bis April ein erhöhtes Risiko für Aerosole haben werden. Wenn wir die gesundheitlich eher gefährdete Menschen in unserer Gesellschaft gut beschützen, wenn wir gut ventilieren, wird die zweite Welle nicht so heftig werden wie die erste. Denn viele Menschen sind inzwischen bereits mit dem Virus in Berührung gekommen. Auch in Zukunft werden wir  in den Wintermonaten mit Corona rechnen müssen. Aber das Virus wird nicht mehr so stark zuschlagen wie in diesem Frühjahr, als das Virus für alle Menschen neu und wie beschrieben ‚unbekannt‘ war.

Sie haben Ihr Leben dem Studium der Bekämpfung von Infektionskrankheiten gewidmet. Was fällt Ihnen im weltweiten Umgang mit dem Coronavirus auf?

Das Sparprogramm in der Gesundheitsfürsorge und die Reduktion der Bettenzahl in den Krankenhäusern hat maßgeblich dazu beigetragen, dass Panikmaßnahmen getroffen wurden, um zu verhindern, dass die Krankenhäuser mit Patienten überspült werden. Das gilt leider nicht allein für Amsterdam und die Niederlande.

Anmerkung des Übersetzers: In Deutschland ist die Bettenkapazität auf den Intensivstationen im Vergleich mit den Niederlanden deutlich höher. Nordrhein-Westfalen hat etwa fünfmal so viele Intensivbetten wie die Niederlande — bei etwa gleicher Einwohnerzahl.

Dadurch, dass Nutzen von Sparmaßnahmen nicht gleichmäßig verteilt wurden, ist ein großer Teil der Weltbevölkerung nun noch verletzlicher geworden, was einen gesunden Lebensstil betrifft. Bezüglich des Umgangs mit dem Virus denke ich, dass ein Studium der alten Literatur und darauf basierend gezielte Untersuchungen einen Beitrag zu einer effektiven Politik liefern können. Eine Politik frei von Angst und Panik oder der Notwendigkeit, persönliche Freiheiten opfern zu müssen.

Vielen Dank Herr Bouma für Ihre interessanten Ausführungen!

Robijn Tilanus ist Improvisationscoach, Pianist und Komponist, sowie Autor und freier Journalist. Dieses Interview wurde ursprünglich bei der Amsterdamer Zeitung oost-online, www.oost-online.nl veröffentlicht.

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